Einfrieren?

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Die abermals von der CDU/CSU in ganggesetzte Taurus-Debatte mit anschließender Abstimmung im Bundestag, deren Ergebnis mit einer wenig überraschenden Ablehnung des Unionsantrags endete, hat eine Klärung im Hinblick auf die Ukraine-Strategie der im Bundestag vertretenen Parteien der Regierungsampel und der Opposition gebracht.

Inhaltlich vertreten die Union, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP eine Position, die unabhängig von der leidigen und peinlichen Taurus-Debatte ganz deutlich auf einen militärischen Erfolg (Sieg) der Ukraine setzt und dazu aufruft, dafür alle nur möglichen Mittel – eben auch die Taurus-Marschflugkörper – einzusetzen.

Auf der anderen Seite stehen alle jene Parteien, die weder einen Sieg noch eine Niederlage der beiden involvierten Kriegsparteien für möglich und wünschenswert halten. Sie sehen zwar in Russland auch den eigentlichen Aggressor und räumen der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung ein, sind aber dagegen, den Krieg fortzusetzen und rufen immer wieder zu einem Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen auf.

Diese Position vertreten von Beginn an die russlandfreundliche AfD und die Gruppe um Sarah Wagenknecht, aber auch die inzwischen etwas dezimierte und russlandkritischere Linke.

Die strategisch bisher schwammige Position der SPD wurde nun deutlicher durch deren friedensbewegten Fraktionsvorsitzenden Mützenich umrissen, der dazu aufrief, statt immer weiter über Kriegsführung zu diskutieren auch die Möglichkeit zu erwägen, diesen Krieg einzufrieren und irgendwann zu beenden. Damit formulierte er unter dem Beifall der Genossen/innen das, was man wohl unter der Ukrainestrategie der den Bundeskanzler stellenden Regierungspartei SPD verstehen muss.

Der von ihm verwendete Begriff des „Einfrierens des Kriegs“ hat sicherlich bei all jenen, die wissen, was von den von Russland vom Zaun gebrochenen und eingefrorenen Kriegen zu halten ist, Protest, schwere Bedenken oder gar blankes Entsetzen hervorgerufen. Die sich anschließenden Debatten mit gegenseitigen Anwürfen und Verunglimpfungen haben dies nur zu deutlich gemacht.

Dabei hat Mützenich nur das ausgesprochen, wofür auch der Bundeskanzler steht: beide Kriegsparteien dürfen weder siegen noch verlieren. Die Ukraine wird zwar mittlerweile entschieden und effektiv unterstützt, darf aber nicht in die Lage versetzt werden, Russland zu sehr zu bedrängen, denn die Reaktion Putins könnte (dann) verheerend sein. Diese besonnen-zögerliche Haltung des Kanzlers hat in den letzten beiden Jahren dazu geführt, dass die Ukraine jene schweren Waffen, die sie am bittersten benötigte, in der Regel zu spät erhielt, um größere strategische Erfolge erzielen zu können. Die notwendigen Marschflugkörper lieferten schließlich Amerikaner, Briten und Franzosen.

Beim Taurus zog Scholz nach neunmonatiger Zurückhaltung nun eine endgültige rote Linie, wodurch er nicht nur seine Koalitionspartner in der Ampel irritierte, sondern auch die verbündeten Briten und Franzosen. Überdies gab er damit auch an Putin ein klares Signal, was diesen dazu veranlasste seine Offensive zu intensivieren und erneut mit einer „zivilisatorischen Katastrophe“ zu drohen. Die deeskalierende Haltung des Kanzlers hat Putin also eher ermutigt, denn besänftigt. Eine ähnliche Wirkung dürfte auch Mützenichs Desiderat vom „Einfrieren“ des Kriegs gehabt haben. Putin legt diese Haltung als Schwäche aus und nutzt sie dazu, noch aggressiver vorzugehen.

Mittlerweile haben wir es mit einem Abnutzungskrieg zu tun, dessen Ende unabsehbar ist, der aber immer mehr Menschenleben und Ressourcen verschlingt. Russland ist aufgrund seiner größeren menschlichen und militärischen Reserven im Vorteil, die Ukraine verteidigt sich tapfer, verfügt aber nicht über genügend Soldaten, Munition und effektive Waffensysteme, um dem russischen Druck auf Dauer standhalten zu können. Man wird von europäischer Seite demnach viel mehr tun müssen, um eine Niederlage der Ukraine und einen Diktatfrieden Putins zu verhindern.

Die westlichen Verbündeten sind gefordert, ihre militärischen Anstrengungen zur Unterstützung der Ukraine und zu ihrer Selbstverteidigung erheblich zu erhöhen. Der faktische Ausfall der amerikanischen Militärhilfen für die Ukraine und die Drohung Trumps, die NATO in ihrer bisherigen Form in Frage zu stellen und die Ukraine nach seiner Wiederwahl mit „keinem Cent“ zu unterstützen, bringt die europäischen Regierungen, die sich bisher noch immer auf die Bündnistreue der USA innerhalb der NATO verlassen konnten, in eine schwierige Lage.

Die von Papst Franziskus und der SPD in Betracht gezogene (eingefrorene) weiße Flagge könnte bestenfalls für einem temporären Waffenstillstand sorgen, den aber weder die bedrängte Ukraine noch der im Aufwind befindliche Putin wünschen. Ein fauler Kompromiss auf Kosten der Ukraine wird das imperialistische Russland nicht dazu bringen, auf die Restitution seiner Großmachtstellung zu verzichten. Im Gegenteil, es wird Putin dazu ermutigen, sich die Ukraine ganz einzuverleiben und noch weiter nach Westen vorzudringen.

Insofern sind die von Olaf Scholz und Rolf Mützenich an Putin ausgesandten Signale, die vom Kreml-Herrn als Schwäche gelesen werden, kontraproduktiv. Die SPD, die es bisher versäumt hat, ihre fatale Energie- und Außenpolitik unter Gerhard Schröder, Franz-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel gegenüber der Russischen Föderation aufzuarbeiten, gerät offenbar wieder in altes Fahrwasser und scheint sich in ihrer Einschätzung Putins wieder auf dem Holzweg zu befinden. Zur Genese dieses Holzwegs empfehle ich die Lektüre des 2023 erschienenen Buches von Reinhard Bingener und Markus Wehner: Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, besonders das letzte Kapitel unter dem Titel „Signale der Schwäche“, S.274-285.

Sich von den Drohungen Putins einschüchtern zu lassen, selbst Ängste zu schüren und den Begriff „Einfrieren“ ins Spiel zu bringen, ist geradezu fahrlässig. Den lange gepflegten Entspannungs- und Friedensmythos in dieser Situation neu beleben zu wollen, ist brandgefährlich.

Da ist die strategische Position des französische Präsidenten Macron, der die Bedrohung für sein Land, aber auch für ganz Europa klar benennt und einen entschiedenen militärischen Widerstand bis zur Niederlage Russlands anmahnt, wobei im Extremfall auch der Einsatz europäischer Bodentruppen nicht ausgeschlossen wird, weitaus realistischer, wenn auch vordergründig riskanter.

Der ehemalige französischer Botschafter in Washington und in der UN, Gérard Araud, brachte dies bekanntlich auf die folgende griffige Formel: „Ein Krieg mit Putin lässt sich nur vermeiden, wenn man ihm für den Ernstfall den Krieg androht. Nicht indem man die Waffen streckt.“ (Henri Reynaud, Französischer Botschafter A.D. In: FAZ, 12,03.2024, S.12)

Der trotz aller deutsch- französischen Gegensätze unter Beteiligung Polens unternommene Versuch einer Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks könnte Früchte tragen. Das setzt aber voraus, dass man sich im Rahmen von NATO und EU auf der Grundlage einer gemeinsam abgestimmten Strategie einig ist – und das auch entsprechend kommuniziert. Ein Anfang wurde gemacht, den Ankündigungen des Weimarer Trios sollten allerdings möglichst bald abgestimmte entschlossene Taten folgen.