Europäische Verteidigungsgemeinschaft?

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Putin weckt den europäischen Riesen. Ein Rüstungswettlauf mit der Zeit“. Unter diesem Titel hat Janusz Lewandowski, Europaabgeordneter der polnischen Bürgerplattform (PO) und ehemaliger EU-Kommissar für Haushalts- und Finanzplanung am 21.03.2014 in der Gazeta Wyborcza einen Überblicksartikel veröffentlicht, der die Genese und die Dilemmata einer europäischen Verteidigungspolitik konzise beschreibt und den ich aus aktuellem Anlass in eigener Übersetzung und nur leicht gekürzt wiedergebe. Zumal die Debatte, ob die EU für eine adäquate militärische Aufrüstung Schulden aufnehmen sollte, wieder Fahrt aufnimmt. Sie wurde bekanntlich im Dezember des vergangenen Jahres von der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas angestoßen, als sie dazu aufforderte, europäische „Verteidigungsanleihen“ im Wert von 100 Mrd. Euro auszugeben. (Thomas Gutschker: Auf der Suche nach 100 Milliarden. In: FAZ, 22.03.2024, S.2)

Wladimir Putin und Donald Trump sind zu Geburtshelfern der militärischen Dimension der Integration Europas geworden. Die Aggression Putins und seine gen Westen ausgestoßenen Drohungen könnten die gleichen Konsequenzen haben wie der japanische Angriff auf Pearl Harbor im Jahre 1941. Damals mahnte dessen Oberbefehlshaber, Admiral Yamamoto, seine siegestrunkenen Landsleute: „Wir haben einen Riesen geweckt…“ Das waren prophetische Worte. Der verbrecherische Krieg Putins könnte zu den gleichen Konsequenzen führen. Ein Krieg, der den Selbsterhaltungsinstinkt der europäischen Demokratie geweckt und ihr bewusst gemacht hat, dass sie ihr gewaltiges Wirtschaftspotential nutzen muss, um potentielle Aggressoren militärisch abschrecken zu können.

Der Krieg ist auf unseren Kontinent zurückgekehrt und verändert die Europäische Union. Die europäische Integration gewinnt die militärische Dimension zurück, die zu ihrer Entstehungszeit vernachlässigt wurde. Paradoxerweise ist Frankreich, das Anfang der 1950er Jahre des 20. Jahrhunderts das Entstehen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft verhindert hatte, nun ein entschiedener Befürworter der Militarisierung der Union. (…)

Über Jahrzehnte entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft als Friedensprojekt, das durch die amerikanischen Sicherheitsgarantien geschützt wurde. Als solches war sie in den 1990er Jahren angesichts des Völkermords im ehemaligen Jugoslawien beschämend wehrlos. Dieser wurde erst durch die Intervention der USA beendet.

Soft power“ bestand die Prüfung nicht

Das 21. Jahrhundert sollte das Ende der Geschichte bringen, aber es ist reich an Kriegen und an Regimen, die die Nachkriegsordnung in Frage stellen. Obschon die Verteidigungsfähigkeit in dem ab dem Jahr 2009 gültigen Vertrag von Lissabon verankert wurde, kam es erst nach den unverhohlen imperialen Aktionen Putins, die die Grenzen Georgiens und der Ukraine gewaltsam veränderten, zu zaghaften Reaktionen.

Die Schwäche der „weichen“ Institutionen, die den Frieden hüten und die Unverletzlichkeit der Grenzen garantieren sollten – die OSZE auf kontinentaler und die UNO auf globaler Ebene – trat zu Tage. Die Doktrin der „soft power“, die Zähmung aggressiver Regime durch Handelsbeziehungen (Wandel durch Handel), durch Kultur- und Jugendaustausch, hatte versagt.

Der Glaube an die Sicherheitsgarantien der USA wurde während der Präsidentschaft Trumps erschüttert. Bereits davor, während der Präsidentschaft Obamas, wuchs die Sorge, dass sich der Schwerpunkt der strategischen Interessen der USA in Richtung Pazifik und die Konfrontation mit China verlagert. Das schien auch Biden zu bestätigen, als er am 15. September 2021 ein strategisches Bündnis mit Großbritannien und Australien (AUKUS) abschloss.

Dennoch blieb der gemeinschaftliche Beitrag bescheiden. Er bestand aus der Permanent Structured Cooperation (PESCO), der Coordinated Annual Review of Defence (CARD), der Military Planning and Conduct Capability sowie den haushaltsgestützten Ansätzen einer entstehenden Sicherheitsstruktur: dem Europäischen Verteidigungsfonds (7,9 Mrd. Euro für die Jahre lata 2021-27) und – außerhalb des Haushalts – der European Peace Facility. Trotz der wachsenden Bedrohungen dominierte der traditionelle Wille, die Friedensdividende auf Kosten der amerikanischen Steuerzahler einzustreichen und bei den eigenen Rüstungsausgaben zu sparen. Im Jahre der Krim-Annexion (2014) erfüllten nur Großbritannien und Griechenland die auf dem Gipfel von Newport vereinbarten Ausgaben in Höhe von 2 Prozent des BIP. Das verstörte besonders hinsichtlich der wohlhabenden Bundesrepublik Deutschland.

Die letztendliche Erschütterung, die den Selbsterhaltungsinstinkt der europäischen Demokratie weckte, war die verbrecherische Aggression Putins gegen die Ukraine am 24. Februar 2022. Für Ernüchterung sorgt auch die Perspektive einer erneuten Präsidentschaft Trumps im November 2024, mit seiner unverhohlenen Infragestellung des Sinns der NATO und anderen bedrohlichen Aussagen. Die von den Republikanern blockierte Hilfe für die Ukraine im Wert von 60 Mrd. Dollar beweist, dass Trump bereit ist, die Ukraine und die Sicherheit Europas für seine eigenen Interessen zu opfern. Paradoxerweise sind Putin und Trump gemeinsam zu Geburtshelfern der militärischen Dimension der Integration geworden, was eine Abkehr von der bisher gültigen pazifistischen Natur der europäischen Gemeinschaft bedeutet. Aktuell stellt sich die Frage nach der militärischen Selbstständigkeit Europas, die Fähigkeit abzuschrecken, auch ohne die USA

Brüssel überwindet das pazifistische Tabu

Das vereinigte Europa ist eine gigantische Regelungsmaschine und die zweitgrößte globale Wirtschaftsmacht. Eine dringende Aufgabe stellt die Verwandlung dieses Wirtschaftspotentials in ein Verteidigungspotential dar. Einen fundamentalen Versuch, diese Herausforderung zu beantworten bildete die Vorstellung der Europäischen Kommission vom 5. März 2024. Damals wurde die europäische Industriestrategie des Verteidigungssektors (European Defence Industrial Strategy, EDIS) sowie das Programm einer europäischen Verteidigungsindustrie (European Defence Industry Programme, EDIP) präsentiert.

Die einen erblicken darin die Überwindung des pazifistischen Tabus und einen ersten derartigen Schritt in der Geschichte der Gemeinschaft. Genauer gesagt, den ersten Schritt seit dem Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft aus dem Jahre 1951, der nicht zustande kam.

Die anderen verhehlen nicht ihre Enttäuschung, dass darin kein Wort über eine gemeinsame europäische Armee und über Euroobligationen für die Rüstung enthalten ist. Diese ehrgeizigeren Pläne hatten durchaus Befürworter unter den Kommissaren. Thierry Breton postulierte einen neuen Fonds in Höhe von 100 Mrd. Euro, und Paolo Gentiloni, gestützt auf einen gemeinsamen Vorschlag von Polen, Frankreich und Estland eine Neuverschuldung zugunsten der Verteidigungsfähigkeit. Er hätte aufgrund der makellosen Glaubwürdigkeit des europäischen Budgets (AAA) eine Chance auf den Finanzmärkten gehabt. Es überwog allerdings die Sorge um die Bedienung der zugunsten der NextGenerationEU (750 Mrd. Euro) aufgenommenen Schulden, die heute hohe Zinsen bedeuten und ab 2027 die Abzahlung der Kapitalraten erfordern.

(…)

Bereits heute investiert Europa mehr in seine Verteidigung als Russland

Der verspätete Versuch das Wirtschafspotenzial der EU in militärische Stärke zu verwandeln hat aufgrund der günstigen Proportionen der Potentiale der EU und Russlands Erfolgschancen. Die Wirtschaft der EU – ohne Großbritannien – stellt das Zehnfache des BIPs Russlands (1,8 Billionen Dollar) dar. Putin hat das Land auf Kriegswirtschaft umgestellt, was bedeutet, dass er die Rüstungsausgaben von 4 Prozent des BIPs auf 6 Prozent erhöht hat, auf im Haushalt für das Jahr 2024 112 Mrd. veranschlagte Dollar. NATO-Generalsekretär Stoltenberg schätzt, dass Europa in diesem Jahr 470 Mrd. Dollar in die Verteidigung investiert, da die Mehrheit der Staaten die Verpflichtung von 2 Prozent des BIPs für diese Ziele erfüllen wird. Bisher sind die militärischen Potenziale Europas durch Fragmentarisierung gekennzeichnet und bilden kein geschlossenes System. Dieses zu schaffen ist aber Aufgabe der NATO, nicht der EU.

Die Investitionen in die eigene Verteidigungsfähigkeit Europas sind ein Element einer breiter verstandenen Souveränitätsstrategie unseres Kontinents, verstanden als Widerstandsfähigkeit gegen äußere Schocks, an denen es an der Schwelle zum 21. Jahrhundert nicht mangelte. Da war zunächst die Reaktion auf die De-Globalisierung, die durch den Zusammenbruch der Lieferketten während der Pandemie hervorgerufen wurde. Ebenso wichtig wurde die Verringerung der Abhängigkeit von China, besonders beim Import sog. kritischen Materialien. Und wegen Putin hat nun die militärische Dimension der strategischen Souveränität eine erstrangige Bedeutung bekommen.

https://wyborcza.pl/7,75968,30815307,putin-budzi-europejskiego-olbrzyma-zbrojeniowy-wyscig-z-czasem.html , Gazeta Wyborcza 21.03.2024