Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Putin lässt sich zum fünften Mal zum Präsidenten wählen und verschärft den innenpolitischen Kurs in Russland noch mehr. Verurteilte Gewaltverbrecher, wie der berüchtigte „Kannibale“ dürfen sich publikumswirksam an der vaterländischen Front bewähren, die politisch bedingte Unterbringung von Andersdenkenden und Oppositionellen in psychiatrischen Anstalten hat Hochkonjunktur, Folterungen und Morde im In- und Ausland sind an der Tagesordnung. (Friedrich Schmidt: Der Kriegspräsident und seine Beute. In: FAZ, 07.05.2024, S.3).
Abgesegnet wird dies alles in Russland nicht nur durch eine verängstigte schweigende Mehrheit der mundtot gemachten russischen Gesellschaft, sondern auch von einem rachsüchtigen ultrachauvinistischen Patriarchen Kyrill, der zum heiligen Krieg gegen den demoralisierten Westen aufruft. Der Diktator scheut sich auch nicht, wieder mit dem Einsatz taktischer Atombomben zu drohen, die Infrastruktur der Ukraine wird im Osten und Westen des Landes in Schutt und Asche gelegt, und gerade gegen Deutschland ein unerbittlicher Cyber-Krieg geführt.
Gleichzeitig stößt die von Kanzler Scholz nach der späten US-amerikanischen Freigabe der Hilfsmittel für die Ukraine neuerlich formulierte Absage an eine Taurus Lieferung, die von einem bezeichnenden Kichern begleitet wurde, nicht nur im In- sondern auch im Ausland auf Unverständnis und Kopfschütteln.
Und auch die spöttischen Verweise des Bundepräsidenten Steinmeier auf die „Kaliberexperten“, die nicht nur in ebenjenen Fachkreisen, sondern auch bei den Vertretern der Opposition und Regierungskoalition Empörung hervorriefen, zeugen davon, dass sowohl Scholz als auch Steinmeier ein erhebliches Kommunikationsproblem haben. Die vernichtenden Kritiken an dem von Steinmeier kürzlich veröffentlichen Buch „Wir“ machen die Sache nicht besser.
Ganz offensichtlich handelt es sich aber nicht nur um die schon oft kritisierte Kommunikationsschwäche des Kanzlers, sondern um seine bisher nur wenig erfolgsverheißenden Versuche (etwa in China) sich als „Friedenskanzler“ in Szene zu setzen. Angesichts der anstehenden Wahlen zum EP und den demnächst anstehenden Landtagswahlen im Osten, bei der die SPD von der AfD marginalisiert wird, und einem fatalen Bundestrend, ist dies wohl der verzweifelte Versuch wieder in die Spur zu kommen. Ob dies angesichts der weiter prekär bleibenden Lage an den ukrainischen Fronten ein tauglicher Ansatz ist, scheint mir fraglich. Während die USA, Großbritannien, Frankreich und das außenpolitisch wiedererwachte Polen zu einer noch entschiedeneren Unterstützung der Ukraine aufrufen und den Einsatz entsprechender Waffensysteme fordern, verweist die Bundesregierung immer wieder und recht selbst zufrieden darauf, was sie alles schon geleistet hat.
Da ist es gut, dass ausgewiesene deutsche und ukrainische Historiker an diesem so geschichtsträchtigen Datum, dem Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, in einem gemeinsamen Text daran erinnern, wie in der Vergangenheit besonders auch in Deutschland einer russischen Erinnerungskultur das Wort geredet wurde, bei der die sowjetischen Opfer und Helden des Zweiten Weltkriegs zusehends von Russland und den Russen vereinnahmt wurden. Dass dabei auch in hohem Maße die tragische Rolle der Ukraine und der Ukrainer als Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus unterschlagen wurde, setzt sich in Westeuropa, besonders aber auch in Deutschland, nur allmählich durch. Dass zahlreiche Ukrainer, aber auch die Masse der Ostmitteleuropäer den 8. Mai 1945, nicht nur als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus feiern durften, sondern auch als Beginn einer sehr bald einsetzenden brutalen sowjetischen Besatzungspolitik erleiden mussten, die erst 1989 ihr Ende fand, wurde im freien Westeuropa und der Bundesrepublik lange verdrängt und nur wenig wahrgenommen. Der von Russland seit 2014 in der Ukraine begonnene Krieg, der 2022 den Charakter eines Vernichtungskriegs angenommen hat, sorgte allmählich dafür, dass es im Westen zu einer differenzierteren Neubewertung des Kriegsendes gekommen ist:
„Die „Osterweiterung der deutschen Erinnerung“, die auch vergessene Orte deutscher Verbrechen in Polen, Belarus, der Ukraine, Russland und anderen einschließt, ist weiter dringlich erforderlich. Mit der Erinnerung an den 8./9. Mai 1945 ist nach dem 24. Februar 2022 die Frage verbunden, inwieweit der gegenwärtige Krieg die Sicht auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts verändert. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Okkupation verpflichtet dazu, dem neuen verbrecherischen Krieg entschieden entgegenzutreten. Wir rufen die Bundesregierung dazu auf, die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression noch stärker als bisher zu unterstützen, um ihr die Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität zu ermöglichen.“ (Deutsch-ukrainische historische Kommission. Die doppelte Botschaft des 8.Mai. In: FAZ, 08.05.2024, S.8)
Angesichts der seit Jahren anhaltenden Durchsetzung der deutschen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft mit russlandfreundlichen, die Zeitgeschichte entstellenden Narrativen, die noch immer öffentlichkeitswirksam zur Geltung kommen, schließe ich mich den heute veröffentlichten Postulaten der deutsch-ukrainischen Historikerkommission ausdrücklich an und bin der Auffassung, dass die Ost-West-Institute der Bundesrepublik, zu denen an prominenter Stelle auch das GESW zählt, sich diesem Thema im Rahmen ihrer historisch-politischen Bildung ausführlich widmen sollten.