Wanja Hemprich
Die Finalität Europas
Die Frage nach der Finalität Europas ist eine Frage, die nicht nur eine Antwort kennt. Die Antworten auf diese Frage sind so individuell wie die europäischen Bürger*innen selbst. Bevor wir nach den finalen Grenzen fragen können, müssen wir verstehen, was es denn einzugrenzen gilt. Was ist Europa?
Zweifach lässt sich diese Frage beantworten. Europa kann als ein geographisches Gebiet sowie als geistige Verbindung von Nationen betrachtet werden. Ersteres grenzt sich im Westen und Norden durch den Atlantischen Ozean und die Nordsee, im Süden durch das Mittelmeer und im Osten durch Russland von den übrigen Kontinenten ab. Letztere ist nicht als metaphysische Verbindung zwischen den europäischen Nationen zu verstehen. Vielmehr meint die geistige Verbindung die kulturellen Gemeinsamkeiten der europäischen Nationen. Zu Ihnen gehören eine gemeinsame Kunstgeschichte, politische Leitbilder wie der Frieden und die Demokratie, welche ihren Ursprung in der attischen Demokratie des antiken Griechenlandes hat. Auch der religiöse Glauben – das Christentum – vereint das heutige Europa. Beginnend mit Karl dem Großen, dem Pater Europae, prägte das Christentum den europäischen Kontinent nachhaltig. Nicht zuletzt zählt auch die westliche Philosophie zu den kulturellen Gemeinsamkeiten. Mit der europäischen Philosophie, derer Wurzeln ebenfalls im antiken Griechenland liegen, teilen sich die Nationen des europäischen Kontinents eine gemeinsame Art die Welt zu betrachten, in Worten zu begreifen und zu kategorisieren.
Auf den ersten Blick erscheinen die topografischen Grenzen Europas natürlich, da sie sich an geografischen Merkmalen wie den Meeren oder der Plattentektonik orientieren. Eine genauere Betrachtung der europäischen Geschichte verrät jedoch, dass erst im 18. Jh. mit Beginn der wissenschaftlichen Geografie erste Unternehmungen stattfanden, Europa durch topografische Grenzen zu definieren. Bis dahin galt „Europa“ als Ethnonym, dessen Bedeutung sich mit der Zeit dynamisch veränderte. Die minoische Hochkultur war die erste auf europäischem Boden. Europäisch wurden die Völker Griechenlandes und die seiner Kolonien bezeichnet. Die Idee eines geeinten Europas geht auf den französischen Geistlichen, Publizisten und Philosophen der Aufklärung, Abbé de Saint Pierre zurück. Seine Idee der Union Européenne hatte zum Ziel, die Kriege und nationalstaatliche Zersplitterung innerhalb Europas zu überwinden. Abbé de Saint Pierre verstand ein geeintes Europa als logische Konsequenz des von Hobbes beschriebenen Naturzustandes. Denn Abbé de Saint Pierre verstand, dass sich durch die nationalstaatliche Zersplitterung Europas nur wieder neue Entitäten herauskristallisieren – einzelne Nationalstaaten – zwischen denen der Naturzustand und das damit einhergehende Recht des Stärkeren fortbestehen würde. Um den Frieden auf dem europäischen Kontinent sicherstellen zu können brauchte es also ein Europa, welches sich als geeint und vereint betrachtete. Im europäischen Frieden sah der französische Philosoph jedoch keineswegs einen Selbstzweck. Vielmehr sollte dieser den Reichtum der Nationen sicherstellen. Bei Politikern, Wissenschaftlern und Philosophen seiner Zeit stieß sein Vorhaben jedoch nicht auf Anklang. Der französische Philosoph Voltaire zum Beispiel hielt die Unterschiedlichkeit von Nationen so natürlich wie die Unterschiede verschiedener Tierarten. Herrschende seiner Zeit verstanden dieses Projekt als eine naive, realitätsfremde Idee.
Vor diesem Hintergrund können wir nun zu der Anfangsfrage zurückkehren. Die Frage nach der Finalität Europas. Es sollte deutlich geworden sein, dass Europa in der Form, wie wir es heute kennen, seine Finalität noch nicht erreicht haben wird. Der Begriff Europas und was er zusammenfasst, ist in der Geschichte immer dynamisch gewesen und wird es auch künftig bleiben. Die Bedeutung des Begriffes hat sich in der Vergangenheit immer verändert und wird es auch in Zukunft tun. In welche Richtung ist unklar. Führen wir Abbé de Saint Pierres Gedanken fort, ist Europa nur ein vorrübergehender Halt auf dem Weg zu einer geeinten Weltgemeinschaft. Denn auch Staatenbünde sind letztlich nur Entitäten, zwischen denen der von Hobbes beschriebene Naturzustand fortbesteht. Es liegt an uns Europäer*innen, was wir aus Europa machen. Die Antwort auf die Frage nach der Finalität Europas bleibt vermutlich weiterhin so individuell wie die Bürger*innen Europas selbst.