Wohin driftet Europa?

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Wenn man den Aussagen führender Vertreter der Europäischen Union Glauben schenken möchte, steht die EU relativ geschlossen da: die Absichtserklärungen im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine (so lange wie nötig) und die Vorbereitungen hinsichtlich einer Auseinandersetzung mit der drohenden Hochzollpolitik von Trump sind angeblich schon weitgehend fortgeschritten und man versichert sich gegenseitig Unterstützung und Solidarität.

Derweilen herrscht in Frankreich der politische Stillstand mit einem schwachen unbeliebten Präsidenten Macron und einer nur wenig durchsetzungsfähigen Minderheitenregierung, platzt die Ampel in Deutschland und zerlegt sich die Regierungspartei SPD am Vorabend des Winterwahlkampfs hinsichtlich der K-Frage, während in Polen ein brutaler Präsidentschaftswahlkampf einsetzt, bei dem es um alles oder nichts gehen wird. Denn über die Wiederherstellung von Rechtsstaat und Demokratie oder das weitere Abdriften hin zu einem autokratischen Staat entscheiden die im Mai anstehenden Präsidentschaftswahlen. Verbal hat Jarosław Kaczyński mit seiner PiS schon seit Jahren den Bürgerkrieg entfacht, das Land geteilt und den Glauben an die liberale westliche Demokratie und die EU erschüttert und in Frage gestellt. Gemeinsam mit Viktor Orbán hat man die EU vorgeführt, den Kontakt zu rechtsextremen Parteien in Europa gesucht und gepflegt und die angeblich abgehobenen EU-freundlichen liberalen Eliten im In- und Ausland bekämpft. Die PiS hat aktiv zur Spaltung der EU beigetragen und somit das Geschäft Putins betrieben. Ziel war es, ein autokratisches Staatsmodell zu errichten, indem man sich Gerichte und Staatsanwaltschaften unterstellte, die öffentlichen Medien in Parteimedien verwandelte und sich schamlos öffentlicher Mittel bediente, um sich selbst und die eigene politische Formation maßlos zu bereichern.

Mehrere parlamentarische Untersuchungskommissionen sind in den letzten Monaten zu geradezu erschreckenden Resultaten kommen, die Staatsanwaltschaften ermitteln gegen ranghohe Vertreter der PiS-Regierung, auch steht der schwerwiegende Vorwurf des Landesverrats und einer bewusst betriebenen Politik der Finnlandisierung Polens im Raum.

Dass die seit knapp einem Jahr herrschende Tusk-Regierung bisher nicht in der Lage war, grundlegende Gesetzte zur Heilung des Rechtsstaats zu verabschieden, liegt daran, dass der der PiS ergebene Staatspräsident Andrzej Duda regelmäßig sein Veto einlegt und die Regierungsarbeit blockiert. Einig ist man sich in Polen aber im Hinblick auf die Verteidigungsfähigkeit des Landes. Hier werden enorme Anstrengungen unternommen, so wurden vor allem in den USA und Südkorea Rüstungsgüter eingekauft und die NATO-Mindestgrenze von zwei Prozent des BIP bei weitem überschritten. Auch hat die nationalkonservative PiS den Triumph Trumps bejubelt, während die Tusk-Regierung aus ihren Sympathien für Biden keinen Hehl gemacht hatte.

Ähnlich wie in Polen stehen die Dinge in der Bundesrepublik auch nicht zum Besten. Die deutsche Wirtschaft lahmt und Deutschland vermag kaum europapolitische Akzente zu setzen, weil es zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Von dem nach der „Zeitenwende“ erhobenen Anspruch führen zu wollen, ist wenig übriggeblieben. Mit dem längst fälligen Bruch der Ampelkoalition, einer Rumpfregierung ohne Mehrheit, einem schwachen und unbeliebten Noch-Bundeskanzler und den im Februar anstehenden Bundestagswahlen mit ungewissem Ausgang hat man sowohl in der westlichen Welt (EU und USA) als auch gegenüber den autokratischen Regimen in China und Russland an Respekt und Einfluss verloren.

Hinzu kommt, dass die einst wegweisende amerikanische Demokratie nach dem erdrutschartigen Sieg Donald Trumps Gefahr läuft sich selbst in eine Autokratie zu verwandeln. Europa und somit auch Deutschland wird zukünftig viel mehr in seine eigene Sicherheit investieren müssen, denn die USA werden ihren Verteidigungsbeitrag in der NATO drastisch senken. Die Europäer werden sich zukünftig in ihrem ureigensten Interesse in einem noch viel höheren Maße für die Verteidigung der Ukraine und ihren Wiederaufbau kümmern müssen. Dabei bleibt die atomare Bedrohung durch ein imperialistisches Russland weiterhin bestehen.

Die windelweiche Reaktion der EU auf den Kriegseintritt Nordkoreas ist bezeichnend, es wurde immer noch nicht realisiert, dass es vorrangige Aufgabe Europas sein sollte, die eigene Freiheit und den Frieden an der russisch-ukrainischen Front zu verteidigen, um zukünftig nicht selbst zur Kriegspartei zu werden. Die unzureichende und zögerliche militärische Unterstützung der Ukraine, die Hoffnung auf diplomatische Lösungen und ein „Einfrieren“ des Kriegs, die besonders von der rechtsextremen AfD, aber auch von dem autokratisch geführten BSW und Teilen der SPD propagiert werden, zerschellen regelmäßig an den entschiedenen „Antworten“ Putins, wie zuletzt nach dem sondierenden Anruf des Bundeskanzlers. Ob Scholz damit die Büchse der Pandora geöffnet hat, wie Selenskyj kritisierte, ist fraglich, auf jeden Fall hat sein Anruf Putin genutzt, wie sein Außenminister Lavrov Scholz gegenüber lobend hervorhob. Dass es ausgerechnet die lame duck Biden war, die mit der Aufhebung des Reichweitentabus der ATACMS und der britischen Marschflugkörper Storm Shadows nach dem Kriegseintritt Nordkoreas der bedrängten Ukraine etwas Luft verschaffte, legt die Abhängigkeit und die Schwäche der EU bloß. Und dass ihm die lame duck Scholz dieses Mal nicht mit der Freigabe der Taurus-Marschflugkörper sekundiert und hart bleibt, ist nicht nur dem (befürchteten) Wahlsieg Trumps zu danken, sondern auch dem bevorstehenden Wahlkampf, in dem sich Scholz noch einmal als besonnener, eine Eskalation vermeidender „Friedenskanzler“ inszenieren möchte.

Was aber hört man aus Frankreich? Hier wird die schwache politische Mitte von einer starken Rechten (Le Pen) und einer kompromisslosen Linken (Jean-Luc Mélenchon) in die Zange genommen. Der seit September amtierende Premierminister Michel Barnier muss für seine Vorhaben mit wechselnden Mehrheiten hantieren, die Staatsverschuldung bleibt enorm hoch, die von Macron beschworene Einheit und Solidarität mit Europa, besonders aber mit dem wichtigsten Partner Deutschland bleibt im Großen und Ganzen deklarativ. Die deutsch-französischen Annäherungsversuche haben eher Symbolgehalt und werden durch nationale Eigeninteressen blockiert. Zwar hat man im Mai 2024 anlässlich der Verleihung des Westfälischen Friedenspreises an Macron schöne Worte gefunden, bei den Regierungskonsultationen in Meseberg lag man allerdings in Fragen einer Wirtschaftsbelebung der EU (Freihandel contra Protektionismus gegenüber China) einer Erhöhung der Finanzmittel für die EU, einer polar entgegengesetzten Energiestrategie (Atomkraftwerke contra erneuerbare Energien), der geplanten und weiterhin stockenden Kooperation bei Rüstungsprojekten, einer entschiedeneren militärischen Unterstützung der Ukraine (Angriffe auf militärische Ziele auf russischem Boden) weiterhin weit auseinander.

Auch die immer wieder diskutierte Stärkung der gemeinsamen europäischen Verteidigung durch Eurobonds- also Anleihen – bleibt kontrovers, da sie vor allem am entschiedenen Einspruch Deutschlands scheitert. Dass etliche europäische Staaten das von der NATO und vor allem den USA geforderte Zweiprozentziel nur mühsam oder überhaupt nicht erreichen werden, steht dabei außer Frage. Klar ist aber auch, dass die bisher angestrebten zwei Prozent des BIP eines jeden NATO-Mitglieds bei Weitem nicht reichen werden, um den angekündigten finanziellen Rückzug der USA zu kompensieren und die Sicherheit Europas durch eine entsprechende konventionelle Abschreckung zu garantieren. (Stefan Locke: Anteilnahme und Anleihen. Angesichts des Krieges gegen die Ukraine wollen die größten europäischen Länder mehr in ihre Verteidigung investieren. Selbst von Eurobonds ist die Rede. In: FAZ, 20.11.24, S.5)

So bleibt die in Deutschland so spektakulär verkündete Zeitenwende ähnlich wie die immer wieder beschworene europäische Verteidigungsgemeinschaft vorerst nur Desiderat, weil die Staaten des „Weimarer Dreiecks“ Polen, Deutschland und Frankreich angesichts des in der Ukraine wütenden Kriegs und der ungebrochenen Eskalationsdominanz Putins zu stark mit sich selbst beschäftigt sind und nur mühsam zu einer gemeinsamen Sprache – geschweige denn – Strategie finden.

Während man sich in Polen der von Russland drohenden Gefahr für das eigene Land und Europa bewusst ist und auf militärische Abschreckung mit erheblichen Mehrausgaben setzt, kommen die von Olaf Scholz aus der „Zeitenwende“ resultierenden notwendigen Vorhaben kaum voran. (Sönke Neitzel: Kriegstüchtig? Zur Zeitenwende in Politik, Gesellschaft und Truppe. In: APUZ, 16.11.24, S.5-10)

Zweifelsohne resultiert dies aus der Tatsache, dass man „Kriegstüchtigkeit“ nur dann wird erreichen können, wenn man die konsumtiven sozialen zugunsten investiver sicherheitsbezogener Ausgaben kürzt. Um diesem existenziellen Ziel näher zu kommen, wird man zusätzlich die in der deutschen Verfassung verankerte und zuletzt so heiß diskutierte Schuldenbremse lösen müssen.

Ob man bereit ist, der deutschen Bevölkerung vor den anstehenden Bundestagswahlen reinen Wein einzuschenken, ist fraglich. Ganz ähnlich ist die Situation in Frankreich, wo es angesichts klammer Kassen und des Drucks der extremen Rechts- und Linksparteien immer schwieriger wird, die Ukraine militärisch zu unterstützen.

Dies sind angesichts der russischen Bedrohung – unabhängig vom Ausgang des Kriegs in der Ukraine – keine guten Aussichten für die immer wieder beschworene und eingeforderte gemeinschaftliche Verteidigung. Da wird noch weitaus mehr kommen müssen, um nicht noch weiter auseinanderzudriften und zum Spielball autokratischer Großmächte zu werden.